Warum sollte man auch sein Potential
nicht nutzen, es sei denn aus Faulheit, Bequemlichkeit oder Egosimus?
Die Antwort liegt tief in der
menschlichen Natur. Ich möchte hier ein Beispiel bringen. Ein Kind
lernt recht früh, Erwartungen zu erkennen, die an es gestellt
werden. Und es übernimmt diese Erwartungen für sich selbst. Was
passiert nun, wenn diese Erwartungen einander widersprechen? Zum
Beispiel, wenn sich die Eltern trennen und ein Elternteil im Beisein
des Kindes über den anderen herzieht. Das Kind kommt nun in einen
Gewissens- und Loyalitätskonflikt. Widerspricht es, dann kommt es zu
einem Konflikt mit dem anwesenden Elternteil. Gerade junge Kinder tun
das nicht. Also wird geschwiegen und ausgewichen. Damit enttäuscht
das Kind gefühlt die Erwartungen des anderen Elternteils, und was
noch wichtiger ist, die eigenen Erwartungen. Je öfter sich das
wiederholt, desto mehr wird es zu einem Muster. „Ich tue nichts.
Ich scheue den Konflikt. Ich lasse die Gelegenheit, etwas zu tun
ungenutzt verstreichen und enttäusche andere und mich selbst.“
Das Muster wird zu einem allgemeinen
Lebensstil. Das Kind wird älter, es scheut Konflikte und verweigert
Leistungen, die von ihm erwartet werden. Es erwartet, sich selbst und
andere zu enttäuschen, egal, was es tut. Das Kind konzentriert sich
auf die Dinge, die absolut notwendig sind, und auf die, die ihm
gerade Spaß machen. Nichts dazwischen. Es arbeitet nicht auf Erfolge
hin, sondern lernt zu scheitern oder durch pures Talent
weiterzukommen. Es erklärt Erfolg und Misserfolg durch äußere
Umstände, Glück und Pech. Die Schulnoten sind schlechter als nötig,
das Studium wird, wenn es überhaupt begonnen wird, erfolglos
abgebrochen.
Aus dem Kind wird ein Erwachsener, der
noch immer Leistung verweigert und Erwartungen enttäuscht, vor allem
die Erwartungen an sich selbst. Ein Meister der Ausreden, der immer
an den Umständen scheitert und mit der Aufrechterhaltung dieser Lüge
den Selbstenttäuschungen noch eine weitere hinzufügt.
Vielleicht passiert ein glücklicher
Zufall und er findet einen Job, der ihn erfüllt, Spaß macht und mit
ständigen Erfolgserlebnissen belohnt. Wenn sein Talent groß genug
ist, um Episoden von Leistungsausfällen aufzufangen, dann geht das
scheinbar gut und das Schema der Enttäuschung verlagert sich auf das
Privatleben.
Vielleicht hat er dieses Glück nicht
und landet da, wo Leute in unserer Gesellschaft landen, wenn sie
keine „Leistungsträger“ sind, zwischen ALGII und Minijob.
Das Problem: Dieser Mensch ist nicht
depressiv, er gilt als ruhig und psychisch stabil. Wenn er unter
Gesellschaft kommt, hat er keine Probleme, sich zu integrieren. Er
entwickelt vielleicht eine Bitterkeit, die er mit Sarkasmus und
scharfen Humor kaschiert. Er selbst weiß nicht, was ihn zurück
hält, warum er ist wie er ist.
Wie kann die Gesellschaft diesem
Menschen helfen? Und wenn sie es nicht kann: Mit welchem Recht
fordert sie Leistung von ihm ein?
Was ist, wenn ein beträchtlicher Teil
der Menschen auf die ein oder andere Art dieses Schema der (Selbst-)Enttäuschungen praktiziert?